Eine Heimat
für den Heimatsport
Der Friesensport Klootschießen existiert seit Jahrhunderten, eine eigens dafür errichtete Anlage wie in Stollhamm gab es aber bisher nicht. Zu Besuch bei einer Weltneuheit.
Samstagmittag, grauer Himmel über Butjadingen. Würde es jetzt noch regnen, wären die Bedingungen perfekt, hier auf der Nordseehalbinsel zwischen Wilhelmshaven und Bremerhaven. Dann könnte der Klootschießerkreisverband am besten demonstrieren, warum auf dem Sportplatz von Stollhamm ein 3,30 Meter breites und knapp 30 Meter langes Haus aus Stahl steht, aus dem in diesem Moment Siegfried Hodel – graue Haare, Softshelljacke – hinausblickt. „Das“, sagt Hodel, „ist eine Anlaufhalle fürs Klootschießen.“ Der 73-Jährige ist der Grund, warum dieses einmalige Gebäude existiert.
Butjadingen in der Wesermarsch ist eine der wenigen Regionen weltweit, in der jedes Kind weiß, was Klootschießen ist. Der jahrhundertealte Heimatsport wird in Deutschland vor allem in den Küstenregionen betrieben: in Friesland und Ostfriesland. Es gibt Klootschießen in verschiedenen Ausführungen, aber im Grunde geht es immer darum, eine mit Blei gefüllte Kugel möglichst weit zu werfen. Geübte Klootschießerinnen und Klootschießer springen dabei von einer Rampe ab, wobei Frauen vermehrt den Rundlaufabwurf ohne Rampe bevorzugen. Traditionell wird Klootschießen außerdem querfeldein gespielt und am besten, wenn der Boden hart gefroren ist. Das verhindert, beim Anlauf einzusacken.
Aber genau das gestaltete sich in den vergangenen Jahren immer schwieriger. Lange Frostperioden sind seltener geworden, starke Regenfälle machen den Boden zusätzlich weich. Deshalb kam Hodel die Idee mit der Anlage.
Eine Halle – aber wie?
Hodel, langjähriger Vorsitzender des Klootschießerkreisverbandes Butjadingen, wollte allen, die sich dem Traditionssport verbunden fühlen, eine Möglichkeit geben, bei Wind und Wetter zu trainieren. Denn Klootschießen ist für die Norddeutschen nicht bloß eine Möglichkeit der Freizeitgestaltung, sondern wird von ihnen durchaus auch professionell ausgeübt. Regelmäßig finden sogar Europameisterschaften statt. Eine Halle musste her, beschloss Hodel. Aber weil Klootschießen ein Randsport ist, gibt es bislang keine Anlagen dafür, geschweige denn eine Bauanleitung. Entsprechend schwierig gestaltete sich auch die Finanzierung.
Was Hodel nicht wusste, als er 2015 mit den Planungen begann: Vor ihm lag eine Odyssee. Immer wieder musste der heute 73-Jährige umdisponieren. Zwar hatte die Europäische Union eine Förderung zugesagt, aber mehr als einmal sah es so aus, als würde das Geld nicht reichen. Weil die EU außerdem erst im Nachhinein zahlt, musste der Verband einen Kredit aufnehmen. „Das hat mir einige schlaflose Nächte bereitet“, sagt Hodel. Am Ende verschlang der Bau knapp 120.000 Euro. Ohne das Geld der anderen Co-Finanzierer, darunter 10.000 Euro von der Lotto-Sport-Stiftung, wäre es nicht gegangen, sagt Hodel.
Überraschung zur Eröffnung
Am 4. September 2020 wurde das Klootschießer-Leistungszentrum Stollhamm schließlich eröffnet – mit einer unerwarteten Überraschung für Hodel: Der Verband hatte beschlossen, die Anlage nach ihm zu benennen, dem Mann, ohne den das alles nicht möglich gewesen wäre.
Dabei ist Hodel selbst gar kein „Herzensklootschießer“, wie er sagt. Hodels Eltern sind keine Einheimischen gewesen. In Butjadingen geboren, lernte er den Sport nicht, wie sonst für die Region üblich, schon als Kind – sondern erst, als er fünfzig Jahre alt war. Man habe ihn überredet, sagt er. Erst zum Sport, dann zu den organisatorischen Aufgaben. Und weil Hodel jemand ist, der die Dinge entweder richtig macht oder gar nicht, trägt die erste offizielle Klootschießeranlage weltweit jetzt seinen Namen.
Von Anfang an war die Anlage kein gewöhnliches Projekt und interessierte zigfach auch die Medien. Immer dabei: der Vorsitzende Hodel. Wenn er nun über die Anlage läuft, um erneut zu erläutern, was es mit dem allen auf sich hat, kommen die Sätze wie aus dem Effeff.
Das Herzstück der Anlage sieht aus wie eine Scheune, ist aber ungewöhnlich schmal. Spätestens beim Betreten der Halle wird klar, dass dies keine Scheune sein kann: Auf einem tartanähnlichen Boden liegt die traditionelle Kokosmatte für den Anlauf. Sie führt bis zum anderen Ende der Halle, knapp dreißig Meter sind es bis dahin. Hodel öffnet das gegenüberliegende Tor, das bis unter das spitz zulaufende Satteldach reicht. Aus dem Inneren der Halle blickt er nun auf den freien Sportplatz bis zum knapp hundert Meter entfernten Zaun und zu den Pferden, die dahinter grasen. Kurz vor dem Hallenausgang steht das Absprungbrett. Von hier aus fliegen die Würfe direkt ins Freie – ohne dass man einen Schritt nach draußen machen müsste.
Laser statt Maßband
Ebenfalls zur Anlage gehört der dunkelgrüne Container wenige Meter neben der Anlaufhalle. Wichtig ist vor allem das, was sich darin befindet: Maschinenbauingenieur Hodel hat sich ein besonderes Messsystem für die Anlage einfallen lassen; eine Laserkonstruktion, die exakt misst, wie weit eine Klootkugel fliegt. Dafür ließ er ein Zielfernrohr auf einem Laser befestigen: Mithilfe des Zielfernrohrs kann der Laser auf ein Schild ausgerichtet werden, das eine Assistentin oder ein Assistent genau dort in den Boden steckt, wo die Kugel nach dem Wurf einschlägt. Ein Display außen am Container zeigt dann an, wie weit die Kugel geflogen ist.
Bisher behalf man sich beim Klootschießen einfach mit einem langen Maßband, aber Hodel wollte es besser machen. Zu Hause messe er doch auch alles mithilfe eines Lasers, warum sollte das nicht auch hier gehen? Bevor Hodel schließlich einen Elektroniker fand, der das spezielle Projekt mit ihm umsetzte, musste er sich zunächst einige Absagen abholen. „Die wussten gar nicht, was ich von ihnen wollte“, sagt er. Es ist nicht leicht, ein Pionier zu sein.
Trippeln, Anlauf, Wurf – 73,4 Meter
Auch wenn die Anlage nun einsatzbereit ist, ihre Eröffnung fiel mitten in die Corona-Pandemie, ein Lockdown reihte sich an den nächsten. Genutzt werden konnte die Anlage daher bisher kaum. Hodel nimmt es gelassen. Er kümmert sich bereits um die Finanzierung zukünftig anstehender Reparaturen und Erweiterungen, verkauft Bannerwerbung an ortsansässige Unternehmen und gibt Klootbegeisterten die Möglichkeit, sich gegen eine Jahresgebühr mit Aluminiumschildern auf dem Container zu verewigen.
Immerhin: Wenn Medien berichten wollen, darf er demonstrieren, wie die Anlage und der Sport funktionieren. An diesem Samstag hat Hodel Klootschieß-Europameister Hendrik Rüdebusch angeheuert. „Komm, Junge! Hau mal einen raus!“, schallt es über den Sportplatz zu Rüdebusch, der in der Anlaufhalle auf seinen Einsatz wartet. Rüdebusch beginnt, auf den Zehenspitzen zu tippeln, setzt sich langsam in Bewegung, bis er immer schneller auf das Sprungbrett zuläuft. Den Wurfarm hat er nach unten ausgestreckt, im Lauf dreht er ihn mit Schwung rückwärts einmal im Kreis, mit einem „Ahhh!“ springt er vom Brett ab und wirft die Kugel in einem hohen Bogen über den Sportplatz. Etwa vier Sekunden wird sie in der Luft sein, um sich dann mehrere Zentimeter in den weichen Boden zu bohren.
Einige Meter weiter beugt sich Hodel nach vorn und blickt konzentriert durch das Zielfernrohr seines Messsystems. Das Fadenkreuz schweift über den Rasen des Sportplatzes, dann erfasst es das Schild, das mit einer Wasserwaage an einem Teleskopstab aus dem Gartencenter befestigt ist. Hodel drückt auf einen Knopf, der Laserstrahl misst die Entfernung bis zum Schild. Über seinem Kopf blinkt die Anzeige auf: 73,4 Meter. Zufrieden richtet sich Hodel auf. Seine Konstruktion funktioniert – egal bei welchem Wetter.